Dushan-Wegner

26.01.2023

Kassandra und der Stabmixer

von Dushan Wegner, Lesezeit 9 Minuten, Bild: DW via AI
Als die Griechen das Holzpferd vor Troja zogen, gab es ja durchaus Trojaner, die davor warnten. Laokoon etwa, oder Kassandra – sie waren die »rechten Schwurbler« und »Verschwörungstheoretiker« ihrer Zeit.
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Zehn Jahre lang hatten die Griechen vor den Mauern Trojas verharrt, hatten belagert und geschimpft, doch vergeblich.

Unter ihnen war aber einer, der hieß »Kalchas«, und Kalchas hatte eine Idee.

»Ich habe eine Idee«, sagte Kalchas, »ich sehe eine Möglichkeit!«

»Jetzt erst? Wir bezahlen dich seit zehn Jahren schon als Seher«, so brummte Sinon, ein festangestellter griechischer Held, doch Sinon brummte es leise, und laut sagte er vierlmehr: »Sprich zu uns, Kalchas, was ist deine Idee?«

Kalchas jubelte: »Wir bauen ein Geschenk für Troja!«

»Jetzt ist er ganz verrückt geworden, aber zumindest kann seine Verrücktheit für etwas Abwechslung sorgen«, so brummte Sinon bei sich, aber er brummte leise, so dass nur die anderen festangestellten Helden es hörten, und laut sagte er: »Sprich zu uns, Kalchas, erzähle uns vom Geschenk, das wir den Trojanern geben sollen.«

Kalchas fühlte sich unter Druck, endlich zu liefern, denn er hatte tatsächlich nun schon zehn Jahre lang das Gehalt eines Sehers kassiert, plus Feiertagsboni und Zuschuss für Stieropfer und Leberschau, doch er hatte bei all dem wenig gesehen, und zu sehen war doch seine Aufgabe.

»Wir bauen ein Pferd aus Holz«, so sprach Kalchas, und bevor sie nachfragen konnten, ergänzte Kalchas: »Wir bauen ein Pferd, das ist so groß, dass wir genug unserer Helden darin unterbringen können. Dieses Pferd werden wir angeblich den Göttern von Troja schenken. Doch wir sagen den Trojanern, dass sie es durchs Tor und in ihre Stadt bringen sollen und als Opfer verbrennen sollen, damit es auch ihnen Glück bringt. Und dann, während das Holzpferd brennt, springen unsere Helden aus dem Feuer heraus und kämpfen mit den Trojanern!«

Sinon war baff. Er sagte, ganz ohne Lachen: »Kalchas, das ist eine brillante Idee! Das hast du endlich gut gesehen!«

Nur eine Korrektur hatte Sinon: »Sag mal, warum sollen die das Pferd verbrennen? Ich habe mir gerade erst diesen neuen Hemithorakion anfertigen lassen, einen leinenen Brustpanzer, wie es sich für einen Helden gehört, und ich zahle ihn noch ab, und die Flammen könnten das Leinen ansengen. Lass uns lieber nachts, wenn die Trojaner schlafen, leise aus dem Pferd heraussteigen. Wir öffnen die Stadttore von innen, und die Griechen kommen hinein – und schwuppdiwupp ist Troja erobert!«

»Ja, ja, das ist natürlich noch besser«, bekräftigte Kalchas, doch bei sich dachte er, dass das doch für einen Helden recht feige war. Aus den Flammen zu steigen wie ein Halbgott, das wäre eines Helden weit würdiger. Aber nachts aus dem Pferd aus- und in die Stadt einzubrechen, das hat etwas von Dieben. Aber gut, die Helden sollen mal machen.«

»Wie viele von uns sollen denn ins Pferd steigen?«, fragte Sinon, denn er plante bereits.

»Die Dichter werden sich dereinst nicht einig sein«, erklärte Kalchas, »die einen werden sagen, ihr seid 23 Helden gewesen, andere werden von 30 oder gar 50 zu berichten wissen. (Und aus Höflichkeit wird keiner kommentieren, wie es im Pferd gerochen haben muss, wenn zwei Dutzend oder mehr griechische Helden, mit Gyros und griechischem Wein gestärkt, über Stunden und Stunden in der Sommerhitze in einem hölzernen Pferd hockten.)«

In Troja aber selbst hatte man sich nach vielen Jahren gewissermaßen an die lästige Belagerung gewöhnt. Es war lästig, das stimmt, doch es war fast schon Alltag. Man könnte beinahe sagen: Es war auf gewisse Weise langweilig geworden.

Man hörte nun einige Tage ein Klopfen und Hämmern aus dem Belagererlager. Man dachte sich, dass die sich wohl neue Latrinen bauen, weil die alten voll sind, oder eine neue Kantine für den Generalstab. Man gab dem Baulärm nicht zu viel Beobachtung.

Die Trojaner dachten bei sich ohnehin immer wieder: »Die spinnen ja, die Griechen!«

Jedoch, mir-nichts-dir-nichts stand da ein großes Holzpferd vor dem Stadttor, und das steigerte den Unterhaltungswert der Belagerung ganz erheblich!

Solchen Segen!

Ja, wir alle haben vom Pferd zu Troja gehört – wir alle, die dies lesen oder hören. Unsere Kinder aber, so sie noch im Kindesalter sind, werden in der Schule womöglich nicht mehr davon hören, und wenn sie es hören, werden sie sich schon Sekunden später nicht dran erinnern.

Der Rest der Geschichte, die ich so frei wie frech und womöglich sogar falsch nacherzählte, ist bekannt: In Troja wurde darüber diskutiert, ob das Pferd wirklich ein ernst gemeintes Geschenk ist, ob es tatsächlich Segen bringen würde, und ob es tatsächlich ein Fluch wäre, dieses Geschenk nicht anzunehmen.

Würden die Griechen wirklich abziehen, wenn man das Geschenk annähme? Wenn das Holzpferd solchen Segen brachte, warum behielten die Griechen es nicht für sich selbst? Wenn die Götter demjenigen Segen brachten, der das Pferd aufstellte und pries, warum war es den Griechen so eilig, es loszuwerden?

Solcher Fragen kamen noch mehr auf, doch man machte sich denkbar unbeliebt, wenn man sie stellte.

Die Schwurbler

Die Priester von Troja hielten sich für sehr schlau, und sie sahen sogleich, wie ein neues großes Kultobjekt ihre Macht und auch ihr Einkommen erweitern könnte. Die Opferungen! Die Feierlichkeiten!

Wem aber die Sache mit dem Holzpferd verdächtig vorkam, den beschimpften die Priester als »Verschwörungsideologen« oder »Schwurbler«.

Der Rechtspopulist Laokoon etwa sagte: »Ich traue den Griechen nicht, auch wenn sie Geschenke bringen!«

Und auch Kassandra, trojanische Seherin und Tochter des Königs Priamos, hatte eine ganz schlimme Ahnung. Das Holzpferd, so warnte sie eindringlich, würde den Untergang Trojas bringen, doch die Priester lachten sie aus, man beschimpfte sie als »Schwurblerin« und eine »griechenfeindliche Hetzerin«.

Indirekt weit mehr

Ja, wir hier wissen, wie es ausging, mit Troja und dem Holzpferd.

Doch ich bin ein politischer Essayist, und es ist ein Zeichen der Zeit, dass Sie, liebe Leser, an dieser Stelle zwar ganz richtig ein politisches Thema erwarten, doch Ihnen gleich mehrere Themen einfallen, Sie also nicht sagen können, welches der mehreren möglichen aktuellen Themen ich auswählen werde.

Nun, ich hoffe, Sie durch meine launige Erzählweise bislang ein wenig unterhalten zu haben, und ich bitte Sie, in den nächsten Absätzen Ihre Aufmerksamkeit erneut auf ein Thema zu richten, dass Sie, wenn Sie bis hierhin gelesen haben, mit aller Wahrscheinlichkeit nicht direkt betrifft – aber indirekt weit mehr, als Ihnen womöglich aktiv bewusst ist.

Bald wieder erlaubt

Ich schreibe seit einiger Zeit immer wieder über Chinas Einsatz »künstlicher Intelligenz« (siehe etwa »Künstliche Intelligenz und Mäusespeck« vom 2.4.2019). Und ich schreibe über die Gefahr, die (nicht nur) meines Erachtens von der chinesischen App »TikTok« ausgeht (siehe etwa »Chinesen im Hafen« vom 26.10.2016), wo man künstliche Intelligenz einsetzt, um westliche Kinder digital abhängig zu machen – und nebenbei den Kindern dann schlicht die Denkfähigkeit zu zerstören.

Als Donald J. Trump es wagte, TikTok in den USA verbieten zu wollen (bbc.com, 3.8.20202), bekam er die volle Breitseite eines Effekts zu spüren, den »Verschwörungstheoretiker« als Einfluss der Kommunistischen Partei Chinas im Westen interpretieren könnten (siehe engl. Wikipedia) – und Joe Biden erlaubte die chinesische Kinder-Manipulation-und-Datensammel-App bald wieder (bbc.com, 6.6.2021), nur um TikTok vor kurzem zumindest für Geräte der US-Regierung zu verbieten (nbc.com, 30.12.2022).

Der Stabmixer

Für viele Kinder wird es zu spät kommen, denn ihr Denken und damit ihr Leben wurde von TikTok fürs Leben beschädigt, doch mittlerweile findet man das Thema »TikTok« auch in Mainstream-Medien.

Leider hinter einer Paywall veröffentlicht etwa welt.de, 26.1.2023 aktuell die deutsche Version eines Interviews mit dem französischen Soziologen Michel Desmurget.

Im Interview wird erwähnt, dass westliche Schüler in den letzten Jahren dramatisch in den Schulleistungen gegenüber China zurückfallen. Und gleichzeitig setzt China eine von künstlicher Intelligenz begleitete App namens »TikTok« ein, um Millionen von Kindern von ebendieser App abhängig zu machen, und ihr Gehirn de facto damit umzuprogrammieren – vulgo: blöd zu machen.

Wie ich schon früher notierte, läuft dieselbe App in China unter anderem Namen und vor allem mit anderen, weit beschränkteren Algorithmen. Im Westen aber werden ganze Generationen von Kindern schlicht mental kaputtgemacht. Wenn man YouTube mit Cannabis oder Rotwein vergleichen wollte, und Instagram und Fortnite mit hartem Schnaps, dann ließe sich TikTok als das digitale Gegenstück zu Heroin oder Fentanyl deuten. (Und wenn Ihnen »Fentanyl« nichts sagt: Es ist die brutale Droge, die in den USA zu den meisten Überdosis-Toten führt und für dystopische Straßenszenen sorgt  (siehe Wikipedia und YouTube) – ja, mit China als einer der Hauptquellen; siehe dea.gov, Jan. 2020 (PDF).)

Wie jung Sie sich auch heute fühlen mögen, an irgendeinem Punkt werden Sie und ich alt sein, und wir könnten uns in einer Gesellschaft wiederfinden, deren öffentliches Denken und damit politische Entscheidungen von Menschen geprägt werden, denen von einer hocheffektiven und sucht-erzeugenden Software quasi ein Stabmixer ins Gehirn gehalten wurde. (Hängt es damit zusammen, dass es den Grünen gar nicht schnell genug gehen kann, Kinder zum Wählen zu bekommen?)

Überlastete oder schlicht unwissende Eltern mögen froh sein, wenn TikTok ihre Kinder einige Stunden pro Tag beschäftigt hält, doch nicht nur ich sehe die ach-so-harmlos daherkommende, von Algorithmen optimierte Suchtmaschine mit provokativ tanzenden Minderjährigen und gefährlichen »Challenges« als ein Trojanisches Pferd, das uns als Gesellschaft von innen her verwundbar macht.

… und viertens

Man könnte vier Ansätze vorlegen, wie Sie als Individuum auf diese Thesen reagieren können, und diese Ansätze schließen einander nicht aus:

Erstens: Sie können es ignorieren, und behaupten, dass all die Leute, die davor warnen, es übertreiben, vielleicht nur »Klicks« wollen. (Ich versichere Ihnen aber, dass es nicht besonders vorteilhaft für die »Klicks« ist, als Essayist vor TikTok zu warnen: Die Eltern, die es nicht betrifft, interessiert es wenig – und die, die es betrifft, wollen es nicht wahrhaben. Und wenn es den Menschen selbst betrifft, liest er sowieso nicht, und schon gar nicht politische Essays.)

Zweitens: Sie können all den warnenden Experten und sogar Sicherheitsbehörden widersprechen – doch bitte tun Sie das mit Widerlegung der eigentlichen Fakten konkret bezüglich TikTok, nicht mit Quatsch wie dem Vorwurf von China- oder Zukunftsfeindlichkeit.

Drittens: Sie können im Privaten versuchen, Ihre Kinder von TikTok fernzuhalten. Ich kann Ihnen aber vorhersagen, dass es nur gelingen wird, wenn Sie selbst oder eine wirklich vertrauenswürdige Person dabei sind und sich Zeit nehmen. Einem Kind, das einmal mit TikTok angefixt wurde, diese App anschließend zu verbieten, ohne es zu begleiten, das ist so sinnvoll, wie einem Heroinsüchtigen einfach nur das Heroin zu »verbieten«, und ihn dann allein zu lassen.

Viertens: Sie könnten schonmal damit planen, dass Sie als Westler in einer Realität leben werden, in der einem Teil der nächsten Generation das Gehirn von TikTok (und anderen manipulativen Initiativen) grundlegende mentale Fähigkeiten schlicht unmöglich gemacht wurden.

Solches Abtun

Ja, es gibt auch andere und an der Oberfläche grellere Nachrichtenthemen, wie der von der deutschen Außenministerin offenbar festgestellte »Krieg gegen Russland« (berliner-zeitung.de, 26.1.2023), die Messerattacke durch einen Palästinenser im Zug zwischen Kiel und Hamburg (zwei Tote: welt.de, 25.1.2023), oder der mutmaßliche Terroranschlag in einer spanischen Kirche (welt.de, 25.1.2023).

Jedoch, all diese Themen passieren demnächst vor dem Hintergrund einer neuen Generation, der zu Teilen schlicht das Denken irreparabel zerstört wurde.

Sie dürfen mich gern eine Kassandra nennen, einen Laokoon, doch durch solches Abtun wird dieses Pferd nicht weniger gefährlich – und bildlich gesprochen steigen die Krieger ja längst aus dem Gaul heraus und öffnen die Tore.

Am Ende gewinnt immer die Realität, doch auf welcher Seite der Realität man stehen wird, das entscheidet sich oft Jahr und Jahrzehnte und nicht selten auch Generationen zuvor.

Weiterschreiben, Wegner!

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